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Der koreanische Begriff Ajeossi (아저씨) steht allgemein für ältere Männer und deren stereotype Merkmale. In der patriarchalischen und altershierarchisch strukturierten Gesellschaft Südkoreas genießen sie traditionell ein hohes Ansehen; gleichzeitig haben Wirtschaftskrisen und Arbeitslosigkeit, gepaart mit einer der rapiden Alterung der Bevölkerung nicht entsprechenden Sozialpolitik, zu steigender Altersarmut und gesellschaftlicher Marginalisierung geführt. Die Ajeossis erscheinen als Überbleibsel vergangener Jahrzehnte: uniformiert in aus der Mode gekommenen Anzügen, rauchend, trinkend, auf alte Hierarchien pochend. Florian Bong-Kil Grosses gleichnamige Arbeit wurde zwischen 2015 und 2017 größtenteils in Gebieten der Metropole Seoul fotografiert, wo sich ältere Männer täglich in großer Zahl an Orten wie Jongno, dem historischen Zentrum der Stadt, versammeln. Während der Titel „Ajeossi“ an eine Milieustudie denken lässt, zeigt die klare Komposition der ausgewählten Fotografien, dass Grosse in ihnen nicht allein dokumentiert, sondern uns an seinem persönlichen Blick auf die Subkultur der alten Männer teilhaben lässt. Er nähert sich ihnen vorsichtig und empathisch, sodass in den Fotografien über gefestigte Stereotypen hinaus Nostalgie und Verletzlichkeit sichtbar werden; die Arbeit regt dazu an, eigene Vorstellungen und gesellschaftliche Normen rund um das Älterwerden zu überdenken.


Kuratorin: Nabi Nara


15.05. -05.06.2020

während der Ausstellungszeit jederzeit von aussen begehbar, kein Zugang zu den Ausstellungsräumen der Galerie
AFF Galerie Berlin, Kochhannstr. 14, 10249 Berlin


 

Florian Bong-Kil Grosse

Florian Bong-Kil Grosse (* 1977) lives and works in Berlin. His photographs are characterized by the careful observation and representation of urban spaces. In a subjective, essayistic way, he manages to attribute meaning and importance to banal situations and everyday phenomena. In addition to biographical references, he articulates questions about origin, identity and self-determination.
Grosse was adopted to Germany in the late 1970s and only returned to his native country of Korea as an adult. Since then he has reflected on his complex relationship with Korea in a series of works, including “Ajeossi”: From the point of view of the foreign returnee, he explores everyday life there, less documenting than almost poetically describing. In this way, he delineates the image of a country and its people, to which his perspective is inscribed and thus accessible to the viewer - regardless of whether the subject is foreign or familiar.
The presentation of Grosses “Ajeossi” in the windows of the AFF gallery forms the first part of the Boys Do Cry curatorial series, which is dedicated to the close examination and (re)negotiation of concepts of masculinity. Specifically, the identity node of masculinity and the origin from different regions of Asia is at the center of the considerations of the participating artists, who themselves have backgrounds in Asia and today mostly live in Berlin. In their works, they deal primarily with questions of identity, racism, and societal situatedness along the axes of gender, origin and status.
Boys Do Cry is organized by SOMA Art Space, with kind support of the Senate Department for Culture and Europe Berlin.


 

Der koreanische Begriff Ajeossi (아저씨) steht allgemein für ältere Männer und deren stereotype Merkmale. In der patriarchalischen und altershierarchisch strukturierten Gesellschaft Südkoreas genießen sie traditionell ein hohes Ansehen; gleichzeitig haben Wirtschaftskrisen und Arbeitslosigkeit, gepaart mit einer der rapiden Alterung der Bevölkerung nicht entsprechenden Sozialpolitik, zu steigender Altersarmut und gesellschaftlicher Marginalisierung geführt. Die Ajeossis erscheinen als Überbleibsel vergangener Jahrzehnte: uniformiert in aus der Mode gekommenen Anzügen, rauchend, trinkend, auf alte Hierarchien pochend. Florian Bong-Kil Grosses gleichnamige Arbeit wurde zwischen 2015 und 2017 größtenteils in Gebieten der Metropole Seoul fotografiert, wo sich ältere Männer täglich in großer Zahl an Orten wie Jongno, dem historischen Zentrum der Stadt, versammeln. Während der Titel „Ajeossi“ an eine Milieustudie denken lässt, zeigt die klare Komposition der ausgewählten Fotografien, dass Grosse in ihnen nicht allein dokumentiert, sondern uns an seinem persönlichen Blick auf die Subkultur der alten Männer teilhaben lässt. Er nähert sich ihnen vorsichtig und empathisch, sodass in den Fotografien über gefestigte Stereotypen hinaus Nostalgie und Verletzlichkeit sichtbar werden; die Arbeit regt dazu an, eigene Vorstellungen und gesellschaftliche Normen rund um das Älterwerden zu überdenken.


Kuratorin: Nabi Nara


15.05. -05.06.2020

während der Ausstellungszeit jederzeit von aussen begehbar, kein Zugang zu den Ausstellungsräumen der Galerie
AFF Galerie Berlin, Kochhannstr. 14, 10249 Berlin

wir möchten uns herzlich bedanken bei AFF Galerie Berlin.

Florian Bong-Kil Grosse (*1977) lebt und arbeitet in Berlin. Seine Fotografien zeichnen sich durch die aufmerksame Beobachtung und Darstellung urbaner Räume aus. In subjektiver, essayistischer Weise vermag Grosse banalen Situationen und alltäglichen Phänomenen Bedeutung und Gewicht zu verleihen; dabei artikuliert er neben biografischen Bezügen Fragen nach Herkunft, Identität und Selbstbestimmung.Grosse wurde Ende der 70er Jahre nach Deutschland adoptiert und kehrte erst als Erwachsener in sein Geburtsland Korea zurück. In einer Reihe von Arbeiten, zu der auch „Ajeossi“ gehört, reflektiert er seitdem seine komplexe Beziehung zu Korea: Aus der Sicht des fremden Rückkehrers erkundet er den dortigen Alltag, weniger dokumentierend als nahezu poetisch beschreibend. So entwirft er das Bild eines Landes und seiner Menschen, dem seine Perspektive eingeschrieben und damit den Betrachter*innen zugänglich ist - unabhängig davon, ob ihnen der Gegenstand fremd oder vertraut ist.Die Präsentation von Grosses „Ajeossi“ in den Fenstern der aff Galerie bildet den ersten Teil der Veranstaltungsreihe Boys Do Cry, die der genauen Betrachtung und (Neu-)Verhandlung von Männlichkeitsmodellen gewidmet ist. Spezifisch steht dabei der Identitätsknotenpunkt von Männlichkeit und der Herkunft aus verschiedenen Regionen Asiens im Zentrum der Betrachtungen der teilnehmenden Künstler, die selbst Hintergründe in Asien haben und heute zumeist in Berlin leben. Sie beschäftigen sich in ihren Werken vor allem mit Identitätsfragen, Rassismus, und gesellschaftlichen Verortungen entlang der Achsen Geschlecht, Herkunft und Status.Boys Do Cry wird ausgerichtet durch SOMA Art Space, mit freundlicher Unterstützung der Senatsverwaltung für Kultur und Europa Berlin.

Im Koreanischen bezeichnet „Ajeossi“ einen älteren Mann, wobei „älter“relativ zum Alter der Person ist, die das Wort benutzt. Für Schüler und Schülerinnen kann schon ein Mittzwanziger ein Ajeossi sein, Studierende nennen vielleicht einen verheirateten Mann über vierzig so. Die älteren Männer, die Florian Bong-Kil Grosse in seinen Fotografien umkreist, sind größtenteils jenseits der sechzig und damit in einem Alter, das sie für uns alle zu Ajeossis macht.

Bei seinen Besuchen in Seoul zog es Grosse während der vergangenen zehn Jahre immer wieder in die Umgebung des Pagoda-Parks. Der beliebte Ajeossi-Treffpunkt liegt im Jongno-Viertel, geografisch zwar im Zentrum der Stadt – ehemalige Königspaläste wie auch heutiger Regierungssitz sind in Laufweite –, doch gleichzeitig eine Welt für sich. In den Gassen zwischen den Straßenschluchten, mit ihren Bürohäusern und Barbiersalons, den kleinen Läden und dem mehrstöckigen Nakwon-Musikmarkt, und natürlich im Park selbst entstanden zahlreiche Bilderserien. Die Auswahl, die der SOMA Art Space nun zeigt, bietet Einblicke in den Alltag der Ajeossis. Noch mehr jedoch stellen die Fotos unsere Vorstellungen vom Altern auf den Prüfstand.

Zwar sehen wir auch müde Blicke, ergrautes Haar und aus der Mode gekommene Hemden, doch einen vereinsamten oder dem sozialen Leben entfremdeten Eindruck machen die Ajeossis auf Grosses Bildern nicht. Natürlich sind auch solche Fälle in der schnell alternden Gesellschaft Koreas keine Seltenheit. Doch streng dokumentarisch sind die Fotos offenbar nicht gemeint, auch wenn der Titel an eine Milieustudie erinnern mag und der Ajeossi sich als randständige Existenz dafür durchaus anbieten würde. Dem widerspricht jedoch die deutliche Gemachtheit der Bilder, nicht zuletzt ihre klare Komposition.

Oft über die Schulter aufgenommen, manchmal durch die Kadrierung ihres Kopfes entledigt, bleiben viele der Ajeossis gesichtslos. Austauschbar oder gar repräsentativ wirken sie dabei jedoch nicht. Im Mittelpunkt steht weniger wer sie sind, als was sie tun. Man blickt ihnen sozusagen über die Schulter, als ob man bei ihren Tätigkeiten zuschauen könnte, doch was sie tun bleibt oft der Phantasie überlassen. Die anonymen Rücken und ausrasierten Nacken der abgewandten Ajeossis, ob in ihr Spiel vertieft, an der Ampel wartend oder ohne klaren Grund hintereinander stehend, erwecken den Anschein einer verschworenen Gemeinschaft, die eigenen Regeln folgt.

In anderen Bildern treten dagegen Individuen auf, stehen für einen Moment im Rampenlicht, auch wenn sie tatsächlich nur – wie jeden Tag? – die Treppe aus der U-Bahn hinaufsteigen oder eine Straße überqueren. Grosse zelebriert die Ajeossis hier in all ihrem verblassenden Glanz. Daneben dekonstruiert er die Selbstinszenierung, indem er nicht nur ihre Darbietung, sondern auch die Kostüme und Accessoires präsentiert. Der Anzug von der Stange, Uniform des Angestellten, funktioniert auch nach der Pensionierung als Statussymbol und kündet von Jahren des Büroalltags, während Jeans und Sneakers als Symbol neugewonnener Freiheit taugen. Ein golden glitzerndes Bühnenoutfit im Schaufenster, vielleicht vom nahen Musikmarkt, erzählt von fernen Träumen, flüchtig wie die Schlagermusik, die im Park zu hören sein wird.

Wie die Ajeossis selbst sind Grosses Fotos wortkarg und haben in ihrer Klarheit etwas nostalgisches. Sie liefern einen Kontrast zum tendenziell schlechten Image des gemeinen Ajeossis, der raucht, trinkt und auf den Bürgersteig ausspuckt, gern Befehle bellt und schlechte Witze zum Besten gibt. Grosse präsentiert nicht nur das Porträt einer Generation, deren Tage gezählt sind, und skizziert wie nebenbei eine emotionale Landkarte des Stadtviertels. Vor allem wirft der Fotokünstler einige lautlose Schlaglichter auf ein routiniertes Rollenspie und erhöht es so zum Schauspiel. Er hat die Ajeossis nicht von Seoul nach Berlin mitgebracht, um von ihnen zu erzählen, sondern bietet ihnen hier ein neues Schaufenster für ihre Taten. Das Altersheim kann warten.


TEXT :  Jan Creutzenberg

Florian Bong-Kil Grosse  'Ajeossi'  AFF Galerie Berlin

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